Damit ich leben kann

Die Schriftstellerin Ilse Pohl
und ihr Verleger Markus von Hänsel-Hohenhausen
Beobachtet von L. von Battiste

2009 als zweites Bändchen des Doppelbandes von Ilse Pohl: Johann Sebastian Bach, Miniatur, erschienen in der Frankfurter Verlagsgruppe, Frankfurt a.M., München, London, New York. Über Markus von Hänsel-Hohenhausen s. auch www.haensel-hohenhausen.info.

In der gegenwärtigen Literatur ist Ilse Pohl eine außergewöhnliche Erscheinung. Und dies aus mehreren Gründen.

Die 1907 geborene Berlinerin, die den größten Teil ihres Lebens in Frankfurt/M. und in Dreieich verbrachte, trat bereits seit den 1950er Jahren als Kolumnistin in Erscheinung. Ihre ersten veröffentlichten literarischen Stücke sind heiter-ironische Schilderungen des Lebens der Zeit, in denen bereits der sparsame Umgang mit Worten, das Konzentrieren auf Sinn, auffällt. In den folgenden Jahrzehnten erschienen vor allem Erzählungen, bevor ihre kreativste Periode im Alter von 90 Jahren einsetzte. Am Ende ihres Lebens bündelte Ilse Pohl ihr Wissen um das Leben und schuf in einer einzigen großen Kraftanstrengung über 12 Jahre hin ihre in drei Bänden erschienenen Lebenserinnerungen und ihr literarisches Hauptwerk, die Würdigungen historischer Persönlichkeiten in Literarischen Miniaturen, in denen sie ihr Können in Psychologie und Darstellung unter Beweis stellt.

Der Philosoph Robert Spaemann urteilte über die Miniaturen: „Mit 100 Jahren so schön, gesammelt, konzentriert, informativ und frei von jeder Spur von loquacitas senilis [Altersredseligkeit] schreiben – das kenne ich sonst nur von Ernst Jünger.“1

Schicksalhaft war ihre Begegnung mit dem über 50 Jahre jüngeren Verleger Markus von Hänsel-Hohenhausen im Jahre 1996, aus der nicht nur eine fruchtbare Autorin-Verleger-Beziehung, sondern, wenn man dem im Archiv der Frankfurter Verlagsgruppe befindlichen Briefwechsel folgt, über die Jahre auch eine Freundschaft und eine tief empfundene Verbundenheit erwuchs.

Hänsel-Hohenhausen konnte sich auf eine Familientradition beziehen, die in der Literatur seit 200 Jahren eine bedeutende Rolle spielte. Die Vorfahren waren dabei zwar auch als Schriftsteller aktiv, aber ihre größere Bedeutung haben sie in der Literaturgeschichte als Entdecker bedeutender Talente. Literaturscouts also, wie man heute sagen würde. Elise von Hohenhausen (1789-1857) entdeckte den als Dichter noch unbekannten Heinrich Heine in einem Hamburger Kaufmannskontor und führte ihn in Berlin in die kulturell führenden Salons der Rahel Varnhagen und anderer ein. Später vergaß Heine seine Förderin nicht und huldigte ihr in seinen Gedichten. Ohne die Tochter der Elise Hohenhausen, Elise Rüdiger von Hohenhausen (1812-1899), wäre wohl auch Annette von Droste-Hülshoffs Weg anders verlaufen. Die um Jahrzehnte jüngere Elise wurde intime Freundin der großen Dichterin und ihre Wegbereiterin in die Öffentlichkeit. Elise Rüdiger-Hohenhausen überlebte die geliebte Freundin um 50 Jahre, und es gibt im 19. Jahrhundert kaum eine die Dichterin vorstellende, für sie werbende Veröffentlichung, unter der nicht ihr Name stand.

Bereits in der ersten Begegnung mit Ilse Pohl erkannte Hänsel-Hohenhausen die Begabung zu Erzählung und überzeugender Biographie. Er empfahl ihr, die Erinnerungen ihres Lebens aufzuschreiben (1997 bis 1999 erschienen), die mit einem Literaturpreis ausgezeichnet und Gegenstand staatlicher Anerkennung wurden. Aus Dankbarkeit und Verbundenheit ließ Pohl in die Bände eine Widmung für ihren Verleger eindrucken.

Nicht ohne Überraschung stellten beide dann auch ihr gemeinsames Interesse an Annette von Droste-Hülshoff fest, Hänsel-Hohenhausen auf Grund seiner Familienkenntnis, Pohl wegen des Schicksalsweges der Dichterin, von dem sie sich seit jeher angezogen fühlte. Im Gespräch mit dem Verleger schilderte sie die Dichterin und die Spannungen ihres Lebens so differenziert, dabei konzentriert und substantiell, daß er anregte, den bekannten Droste-Biographien mutig einen eigenen Zugriff gegenüberzustellen. Die konventionelle Biographie suche, schrieb ihr Hänsel-Hohenhausen, das vergangene Leben möglichst detail- und farbenreich zu schildern, um die entschwundene Wirklichkeit kenntlich zu machen, während Pohl immerzu um den punctum saliens ringe. Sie gebe sich mit dem Bild eines Lebens nicht zufrieden, sondern wolle wirklich verstehen. Deshalb nutze Pohl eine Technik des öffentlichen Ringens um Wahrheit, eine Art reduktiven Diskurses. „Ihr Zugriff ist,“ so Hänsel-Hohenhausen, „aus diesem Grunde auch kein Ersatz für eine richtige Biographie, sondern ein eigener Typus biographischer Annäherung und Auffassung.“ Wer eine der Miniaturen aufschlägt, merkt in der Tat, daß die Autorin in ihrer Beschäftigung mit dem historischen Gegenüber von ihrer eigenen langen Lebenskenntnis und Erfahrung profitiert. Sie läßt sich durch die vermeintlich auf der Hand liegenden Antworten nicht davon abhalten, die beunruhigenden, also die richtigen Fragen zu stellen. Für ihr feines psychologisches Kondensat schlug Hänsel-Hohenhausen später den zutreffenden Begriff der „literarischen Miniatur“ vor.

Die Freundschaft zwischen beiden hatte sich längst zu einer sicheren Vertrautheit vertieft. Der Verleger hatte die 93jährige Autorin an die Spitze des Aufsichtsrates der Holding Frankfurter Verlagsgruppe Aktienges. berufen. Sie war von Beginn an und ist heute, im Alter von 102 Jahren, die älteste Aufsichtsratsvorsitzende der Welt.

Zum 100. Geburtstag Ilse Pohls legte das Verlagshaus im Jahr 2007 eine Festschrift auf, in der der Verleger auch die Schriftstellerin und ihre Miniaturen würdigt: „Die Fähigkeit zu Beobachtung, Subtraktion und Analyse reifte schließlich, als sie sich im Alter von 97 Jahren der Lebensbeschreibung historischer Persönlichkeiten zuwandte. Dabei faszinierten Ilse Pohl nicht die glänzenden Taten allseits bekannter Großer, nicht das Glück und die Schönheit des reichen, leicht scheinenden Lebens. Auf sie üben intellektueller Anspruch, Einsamkeit, Fragen und Schuld, gesellschaftliche Konsensbrüche und daran reifende Schicksale große Anziehung aus. Aber auch das geistige Licht, die Kraft der Zugewandtheit, der Liebe, der Freundschaft fesseln sie, die der Katabasis, dem Abstieg, dem Zerfall des Lebens, Einhalt gebieten.

Die von ihr verehrte Annette von Droste-Hülshoff, deren Genie sich zwischen gesellschaftlichem Scheitern und tief beglückender, intimer Geistigkeit auseinanderspannt, führte sie auf dieses neue, dritte Feld literarischer Arbeit, auf dem sie wohl ihr Bestes gab und bis heute gibt.

Eine mit Worten sparsame Schriftstellerin ist Ilse Pohl von Beginn an gewesen. Aber jetzt auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, scheint sie geradezu das legendäre Grundprinzip des Bauhauses auf ihre Kunst übertragen zu wollen: Sie prüft den Begriff, wägt einzelne Wörter ab, als ob ihr Beruf die Semantik wäre, streicht und nimmt alles weg, bis schließlich Substanz sichtbar wird.

Entsprechend lange dauert die Niederschrift eines biographischen Textes, der zutreffend als „Miniatur“, als kleines, aber wohl bedacht ausgeführtes Porträt gekennzeichnet ist. Auch wenn über Adele Schopenhauer, Clara Schumann, Cornelia Goethe, auch wenn über Wilhelm Busch, Hans Christian Andersen und Oscar Wilde umfassende biographische Werke existieren – es ist die, um einen Ausdruck Pohls zu verwenden, splitterzarte Analyse, die auf gedrängtem Raum, mit feinen, aber selbstsicheren Strichen psychologisch Wesentliches, also etwas vom wirklichen Wesen der Protagonisten zur Erscheinung bringt. Was manche Tausendseitenbiographie nur mit Mühe und unter dem Schutt unzähliger Fußnoten und unter dem Ballast eines immensen historisch-kritischen Apparats vollbringt, ist geradezu das Kennzeichen der Miniaturen: Sie geben dem unwiderbringlich Entschwundenen wieder eine Gestalt, und der Leser spürt, es ist seine wirkliche Gestalt.“2

Ilse Pohl plagten während ihrer Arbeit Selbstzweifel, und sie bat öfter den Verleger um seine Einschätzung eines neuen Textes. Dieser kritisiert im Briefwechsel ihre „Zweifelhaftigkeit“. Sie verteidigte sich: „Ich wollte kein Lob, sondern nur Bestätigung. Wenn Sie sagten, es ist gut, dann konnte ich weiterschreiben.“ Die Schriftstellerin gab ihrem Verlegerfreund in einem besonderen Augenblick Aufschluß über die wahre Bedeutung ihrer Freundschaft: „Was Sie nicht ermessen können, was Ihre Freundschaft für mich bedeutet. Ein alter Mensch, der schon vieles hinter sich gelassen hat, vieles zurücklassen musste, einsamer wird (Altsein macht auch einsam), von der Bühne in die Kulisse tritt – und dann kommt jemand und zieht mich noch einmal an den Rand der Bühne, ehe ich mich endgültig verabschiede. Noch einmal Neues erwarten, etwas tun (schreiben), was nicht ganz sinnlos bleibt, das bedeutet sehr viel. Ich sehe manche alte Menschen, die in aller Stille langsam verdämmern. Freundschaft ist für mich das Bewegendste, Schönste, was man erleben kann – und das schenken Sie mir.

Es ist ganz dunkel geworden, der Abend legt sich über den Garten, die Nacht breitet ihre Schatten aus. Nun will ich den Brief beenden. Die große Stille möchte ich mit Ihnen teilen, die um mich herum alles umschließt, auch die Vögel schlafen schon. Über ihnen fern das Meer der Sterne. Auch ich bin ganz still geworden und voll Freude, wenn ich an Sie und an uns denke.“3

Die Beziehung zwischen dem Verleger und der Autorin war indessen nicht nur in einer Richtung fruchtbar. Hänsel-Hohenhausen nahm als katholischer Theologe am akademischen Diskurs Anteil, und Ilse Pohl begegnete den theologischen und philosophischen Fragen ihres Freundes mit großem Interesse. Es hat, ausweislich des Briefwechsels, einen intensiven Austausch auch über religiöse und spirituelle Fragen gegeben. Begünstigt dadurch, daß die Autorin nach ihrem Bekenntnis zur katholischen Kirche auch in der religiösen Frage auf dem Höhepunkt ihrer eigenen Entwicklung stand.
Das Erscheinen des ersten Bandes der Literarischen Miniaturen 2005 verknüpfte Pohl deshalb mit der Bitte, der Freund möge ein Nachwort dazu verfassen. Es entstand der philosophische Essay „Vom Antlitz in der Welt“, in dem Hänsel-Hohenhausen die Bedeutung von Personalität in Philosophie und Kulturgeschichte spiegelt. Albrecht Dürers Selbstporträt in der Christusperspektive stellt er dem Turiner Grabtuch gegenüber und gelangt zu grundsätzlichen Aussagen über die Bedeutung des Antlitzes als Ausdruck der Person, zu Folgerungen für die Identität der Moderne und für die Notwendigkeit biographischer Arbeit.4

Dieser Essay, der als Separatdruck in hoher Auflage Verbreitung fand, stieß unter Theologen und Philosophen weltweit auf Zustimmung.5 Der Text mit seinem „hohen denkerischen und sprachlichen Niveau“ (Kardinal-Erzbischof Joachim Meisner) beflügelte auch die Diskussion zwischen Pohl und Hänsel-Hohenhausen. „Ich bin ein Schwamm,“ schrieb sie dem Freund, „ich sauge alles auf.“6 Dieser fand seinerseits die fundierten Fragen der Freundin hilfreich bei der Entwicklung und bei der Niederschrift einer weiteren philosophischen Arbeit über die geistige Signatur der Naturwissenschaften. Ausdrücklich bedankte er sich im Druck bei Pohl für deren „verunsichernd-kluge Fragen, die mich immer wieder zum Bedenken angeregt haben.“7

Neu verfasste Manuskriptseiten wechselten zwischen beiden hin und her, in denen neben Literatur auch Mengenlehre, Physik, Biologie, Logik, Axiome und andere Bereiche des Denkens diskutiert wurden. „Was Ihr neues Buch für mich bedeutet?“, schrieb sie dem Freund schließlich: „Es hat meine Gedankenwelt über ihren Horizont schauen lassen und damit beglückt.“8
Diese Freude vergalt Pohl auch mit mancher Stilkritik. In einer Zusammenfassung des Freundes hieß es: „Bereits der Grundgedanke der Wissenschaft, die Glauben methodisch ablehnt, ist mit ihren Axiomen selbst ein Glauben, der zu Wissen führt, so wie auch der Analogieschluß richtige Ergebnisse ermöglicht, weil die Erscheinungen in einer stillen, metaphysischen Harmonie zu einander befangen sind. Es ist die Annahme des Glaubenswissens, das das Beweiswissen der Wissenschaft erst zur Wahrheit aufrundet.“ Pohl vermerkte hierzu, zur Wahrheit aufzurunden sei unrichtig, es müsse heißen: zur Wahrheit vollenden. Diese Fassung erschien dann im Druck.
2006 bat nun umgekehrt Hänsel-Hohenhausen die Autorin, einen Beitrag zu schreiben, und zwar für sein Buch über die Fürstin Gallitzin9, die im 18. Jahrhundert den kulturell bedeutsamen Kreis von Münster versammelt hatte. Während der Recherche für eine Miniatur über den Missionar Pensylvaniens, Dimitri Prinz von Gallitzin, stellte Pohl verblüffende charakterliche Parallelen zu ihrem einzigen Sohn fest. Mit ihrer Arbeit über Dimitri, der vor kurzem seliggesprochen wurde, widmete sie sich in gewissem Sinn ein letztes Mal dem eigenen Sohn.

Anfang 2007 fragte Pohl den vertrauten Freund nach einem Thema für ihr nächstes Buch. Dieser schlug zunächst Albrecht Dürer vor, „dessen Weg zwischen Genialität, kaufmännischem Erfindergeist (Entwicklung des Stichs zur Multiplikation seines materiellen Erfolgs), Intuition (Einführung der oberitalienischen Renaissance in die Kunst jenseits der Alpen) und persönlichem Schicksal alles zwischen Größe und Scheitern zu bieten scheint“, was die Freundin interessieren konnte. Nachdem sie wegen der Bedenken, sich bei der ihr verbleibenden Zeit noch tief genug einarbeiten zu können, abgelehnt hatte, schlug er Johann Sebastian Bach vor. Auch diesen Vorschlag verwarf sie zunächst. Der Gegenstand schien ihr zu gewaltig, doch Hänsel-Hohenhausen grenzte die Aufgabe von einer Würdigung des Werkes ab: „Es könnte ein Bild des Menschen, seiner Persönlichkeit und seines Schicksals entstehen. Sie können sich damit begnügen, sich still auf die in einer reichen Literatur ausgebreitete Würdigung des Werkes zu verlassen. Auch eine Biographie Bachs nach den gewöhnlichen Erwartungen sollen Sie gar nicht versuchen“, schrieb er ihr. „Das Feld der gelehrten Porträts ist bereits bestellt, aber, was es, soweit ich weiß, noch nicht gibt, ist eine literarische Federzeichnung des Charakters in seiner Entwicklung, die in ihrer Leichtigkeit mehr auszulassen scheint, als sie bringt. Die Reduktivität einer solchen Zeichnung macht es dem Leser leicht, sich auf ihre Gedanken einzulassen und dem vermeintlich Fehlenden, das als Ausgelassenes unsichtbar konkret ist, also der unwiederbringlich verlorenen Wirklichkeit, durch eigenes Bedenken nachzuspüren. Angeleitet durch Ihre behutsamen Annäherungen und Ihre virtuosen Fragen kann der prospektive Leser zu authentischen Schlüssen und zu einem eigenen, überzeugenden Bild gelangen.“

Hänsel-Hohenhausen wies dann noch auf das Bachs Leben zu Grunde liegende religiöse Prinzip hin: „Bach führt uns in seltener Eindringlichkeit die Doppelwesenheit des Menschen vor, der Schöpfer und zugleich Geschöpf ist, und die Spiegelung des einen im andern. Insofern wird Ihr Buch über das Leben Johann Sebastian Bachs, das vom Werk unabhängig zu sein scheint und dessen Kenntnis in das Dunkel der Geschichte hinabgesunken ist, mit seinem tiefen, religiösen Ostinato auch Ihr Bekenntnis, Ihr Vermächtnis zum Ausdruck bringen.“

Ein Jahr darauf lieferte die Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Bestätigung, die Hänsel-Hohenhausen der Freundin zur Kenntnis gab: „Anders als Mozart und Beethoven“, so der Zeitungsbericht, „bleibt Johann Sebastian Bach als Mensch, hinter seinem Werk verborgen“ (28.02.2008).

Pohl hatte dem Vorschlag bereits zugestimmt und die Bedenken wegen der Größe des Themas beschwichtigt gefunden: „Man sollte auch gar nicht alles bringen, was erreichbar ist, das wirkliche, das ideale (nicht idealisierte) Verständnis benötigt weniger. Das Zuviel kann sich wie ein Schleier über die Substanz legen.“10 Die Autorin ahnte dabei nicht, daß die zu rezipierende Literatur und der Prozeß der Verdichtung auf einige Dutzend Manuskriptseiten beinahe zwei Jahre in Anspruch nehmen würden. Dabei wertete sie nicht nur die Sekundärliteratur aus, sondern auch die für sie verfügbaren Archivalien, insbesondere die in fünf Bänden veröffentlichten „Bach-Dokumente“.

Die Niederschrift des Manuskriptes verzögerte sich erheblich wegen der sich verschlechternden körperlichen Verfassung Pohls. Mehrere Operationen hatte sie in dieser Zeit zu überstehen. Zeitweise büßte sie ihr Augenlicht fast ganz ein. „Bach, mein Bach,“ rief sie Hänsel-Hohenhausen zu, „ich will ihn zu Ende schreiben!“ Auch die Schwerhörigkeit machte ihr zu schaffen. Eine Unterhaltung mit mehreren Personen gleichzeitig war unmöglich geworden. Die Sehbehinderung verursachte dazu eine Unsicherheit im Gehen, die alle Wege erschwerte. Ihren Verleger ließ sie wissen, wie es in dieser schwierigen Zeit um sie stand:

„Eisig, o Herr, sind die Stunden
Meiner Verlassenheit
Und ich sehne mich
Deiner Stille
Schweigend entgegenzugehen.“11

Ilse Pohl wäre sicher einsamer geworden, wenn nicht ein Kreis von Freunden und Verehrern sie liebevoll und rücksichtnehmend in Anspruch genommen hätte. Auch erholte sie sich allmählich und war wieder in der Lage, öffentliche Lesungen zu halten. Sie reiste dafür nach Wetzlar, absolvierte Fernsehaufnahmen für das ZDF, für das www.deutsches-literaturfernsehen.de und gab Interviews für Gesellschaftsblätter und Zeitungen. Sie reiste als Vorsitzende des Aufsichtsrates der Frankfurter Verlagsgruppe Holding schließlich sogar nach Leipzig und versah auf der Buchmesse für ihren erkrankten Verlegerfreund den ganztägigen Standdienst. Sie las auf der Feier zum zwanzigjährigen Jubiläum der Verlage ihrer Verlagsgruppe und beteiligte sich an der Jubiläumsbuchausgabe des Verlagshauses.12

Die Besserung brachte allerdings auch zahlreiche Ablenkungen mit sich. Sie litt häufig darunter, in ihre literarische Arbeit „nicht wieder hineinzukommen“. In ihren Briefen beklagt sie, durch gesellschaftliche Anforderungen laufend an der Arbeit gehindert zu sein. „Mir verrinnt die Zeit zwischen den Fingern“, notierte sie für den Freund, und der Briefwechsel dieser Zeit enthält das häufig wiederkehrende Bekenntnis, immer nur für kurze Zeit am Manuskript weiterarbeiten zu können.

Das Schreiben war indessen ihr Lebenselixier. In der Korrespondenz mit Hänsel-Hohenhausen betont sie immer wieder, daß die Arbeit, die sie im Sinne ihrer Freundschaft für ihn leiste, es sei, die sie am Leben halte: „Ihre Freundschaft ist es, die mir hilft, mein oft sehr mühsames Alter zu bestehen. Durch sie lebe ich noch!“13 Ilse Pohl vertraute ihm an, daß sie sehr wohl sehr müde sei und die alten Menschen verstehen könne, die morgens einfach nicht mehr aufstünden. „Aber, das Nichtstun ist keine Freude, sondern der Anfang vom Ende. Wenn es heißt, ich sei mit meinem Arbeitswillen ein Vorbild, muß ich warnen. Es ist mühselig.“

In dieser Zeit begegnete ihr ein Gedicht von Karl Krolow, in dem sie sich wiedererkannte:

Schreiben

Was ist das eigentlich: Schreiben
Und Weiterschreiben als Zwang?
Es ist wie am Leben bleiben,
das noch einmal im Schreiben gelang.

Ein unwiderstehliches Drängen,
genug ist auch hier nicht genug
unter den Lebenszwängen,
die man gelassen ertrug.

Dies Gefühl: man ist noch am Leben,
das man nur noch schreibend erträgt
wie besonderes Antwortgeben,
das einen nicht widerlegt.

Im Alter von 101 Jahren reiste die Autorin schließlich nach England, um sich auf den Landsitz Hänsel-Hohenhausens zurückzuziehen und ihre literarische Arbeit zu intensivieren. Zehn Stunden verbrachte sie dort jeden Tag am Schreibtisch, umgeben von ihren Büchern, Notizen, längeren Aufzeichnungen und einzelnen Manuskriptseiten. Diese waren von ihren Textredaktionen bis zur Unleserlichkeit entstellt, ein Zeugnis ihres Ringens um Wahrhaftigkeit. „Ich muß ihn [Bach] verstehen,“ schrieb sie dem Freund, „sonst kann ich nichts sagen.“

Schwer traf sie der Tod ihres Sohnes im Sommer 2008. „Alt zu werden,“ vertraute sie Hänsel-Hohenhausen an, „ist auch eine Bürde. Wäre ich nicht so alt geworden, müßte ich diesen Schmerz und manch andern nicht ertragen.“ Mit großer Disziplin reiste sie nach Baden-Baden, nahm den Ehrenpreis des Mühlschlegel-Preises entgegen und gab dem Publikum dabei Einblicke in ihr literarisches Schaffen.

In dieser Zeit schrieb sie dem Freund: „Ich lebe nicht mehr lange, ich will aber mein letztes Buch beenden. Alles liegt in der Hand unseres Gottes.“ Es brauchte danach noch ein Dreivierteljahr, bis sie im März 2009 ihr Manuskript über Johann Sebastian Bach abschloß. „Ich habe mich bei keinem Buch so verausgabt“, schrieb sie, „wie bei diesem.“

Die vorliegende Charakterzeichnung Bachs ist ein Zeugnis der Leistungsmöglichkeiten eines alten Menschen, der darin zum Vorbild für eine alternde Gesellschaft geworden ist. Ilse Pohl steht für einen nicht nachlassenden Arbeitswillen, der immer wieder aus ihrer als beglückend empfundenen Freundschaft zu Markus von Hänsel-Hohenhausen seine Kraft bezog; eine menschliche und intellektuelle Beziehung, die, bedingt durch die dauernde Abwesenheit des Verlegers, in einem fast eintausend Briefe umfassenden Briefwechsel dokumentiert ist.14

Das Buch über Bach als Menschen stellt wohl den Abschluß ihres bereits in 100.000 Exemplaren verbreiteten Alterswerkes dar. Es ist Ilse Pohls Huldigung an die Person Johann Sebastian Bachs. Als Geschenk hat sie es in die Hände ihres Verlegers und Freundes gelegt.

Anmerkungen

1. Robert Spaemann an Markus von Hänsel-Hohenhausen, Stuttgart 12. Februar 2008

2. Ilse Pohl: Die Goldene Uhr. Literarische Miniatur vom Schauspieler Ernst Ginsberg. Ehrengabe zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin und Aufsichtsratsvorsitzenden der Frankfurter Verlagsgruppe Holding Aktienges./ The Golden Pocket Watch. A Biographical Miniature of the Actor Ernst Ginsberg. Presented to Ilse Pohl, Author and Chairperson oft the Supervisory Board of the Frankfurter Verlagsgruppe Holding Aktienges., in Celebration of her Hundredth Birthday. Frankfurt/M., München, London, Singapore, Bombay, Shanghai, New York 2007, S. 30f.

3. Ilse Pohl an Markus von Hänsel-Hohenhausen, August 2004

4. Ilse Pohl: Meine Lieder werden leben. Miniaturen von Cornelia Goethe, Adele Schopenhauer, Clara Schumann und Annette von Droste-Hülshoff. Und vom Antlitz in der Welt. Ein Schlußgedanke von Markus von Hänsel-Hohenhausen. Frankfurt, München, London, New York 2005, S. 121-168

5. Als Separatdrucke: Markus von Hänsel-Hohenhausen: Vom Antlitz in der Welt. Gedanken zur Identität im 21. Jahrhundert./ The Countenance in the World. Thoughts on Identity in the twentyfirst Century Frankfurt/M., München, London, New York 2005 und ebda. 2007 mit Stimmen über das Buch aus aller Welt S.99 ff.

6. Ilse Pohl an Markus von Hänsel-Hohenhausen, 20. September 2008

7. Markus von Hänsel-Hohenhausen: Ich denke, also glaube ich. Cogito ergo credo. Von Metaphysik und Glaubenswissen als Fundament und Gunst von Naturwissenschaft und westlicher Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Joachim Kardinal Meisner. /

I think, therefore I believe. Metaphysics and religious Knowledge as a Fundament for and Beneficial Force within Natural Science and Western Society. With a Foreword by Joachim Cardinal Meisner. Frankfurt/M., München, London, New York 2008, S. 299

8. Ilse Pohl an Markus von Hänsel-Hohenhausen, 16. August 2007

9. Markus von Hänsel-Hohenhausen: Amalie Fürstin von Gallitzin. Bedeutung und Wirkung. Anmerkungen zum 200. Todestag. Mit einem Beitrag über Frans Hemsterhuis und die Fürstin von Marcel F. Fresco und mit einer literarischen Miniatur von Demetrius Augustin Prinz von Gallitzin gezeichnet von Ilse Pohl. Frankfurt/M., München, London, New York 2006, ²2007, S. 223-245

10. Ilse Pohl an Markus von Hänsel-Hohenhausen, 9. Oktober 2006

11. Ilse Pohl an Markus von Hänsel-Hohenhausen, 29. Juli 2008

12. Die Spieluhr. Nach dem zwanzigjährigen Jubiläum der Verlage der Holding Frankfurter Verlagsgruppe Aktienges. im Alten Forsthaus Charlottenhof im hessischen Langen von den Autorinnen Susanne Spöndlin, Jutta Lehmann, Barbara von Braun-Lacoste, Viola Prinzessin von Hohenzollern, Ingrid R. Donath und Ilse Pohl dem Lektorat eingesandte literarische Einfälle über einen Vogelsingautomaten. Hrsg. vom Altverleger der Frankfurter Verlagsgruppe Markus von Hänsel-Hohenhausen. Frankfurt/M., München, London, New York 2008, S. 63-67

13. Ilse Pohl an Markus von Hänsel-Hohenhausen, 11. Mai 2007

14. v. Hänsel-Hohenhausen hatte bereits 2003 den Vorstandsvorsitz der Frankfurter Verlagsgruppe aufgegeben und sich nach seiner Heirat mit Viola Prinzessin von Hohenzollern auf das Wasserschloß Aldenghoor in Holland zurückgezogen. Die Entfernung zwischen Ilse Pohl und dem Verleger intensivierte den Briefwechsel zwischen beiden. Aus den beiden Jahren der Arbeit am Buch über Johann Sebastian Bach (2007 und 2008) reflektieren 300 Briefe das Entstehen des Buches.