von ihrem Verleger Dr. Markus von Hänsel-Hohenhausen
2007 erstmals als Nachwort veröffentlicht zu: Ilse Pohl: Die Goldene Uhr. Literarische Miniatur vom Schauspieler Ernst Ginsberg. Ehrengabe zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin und Aufsichtsratsvorsitzenden der Frankfurter Verlagsgruppe Holding Aktienges. Ilse Pohl. Deutsch/Englisch. Frankfurt a.M., München, London, Singapur, Bombay, Shanghai, New York 2007.
Ich erinnere mich, das erste Mal, als ich von Ilse Pohl hörte bzw. las, war dies eine kleine Zeitungsmeldung. Ilse Pohl gab wegen ihres hohen Alters von 89 Jahren nach nun 12 Jahren die Leitung des von ihr geführten und beliebten Literaturkreises auf. Sie übergab die Regie der kleinen Gesellschaft Literaturbegeisterter der 100jährigen Frau v. O.
Auch wenn Ilse Pohl heute den Details dieser Erinnerung widerspricht (Frau v. O. sei nur 98 Jahre alt gewesen), so ist es Tatsache, daß sie, die mit 79 Jahren eine in der Stadt Dreieich geschätzte Bildungsarbeit angefangen hatte, damit nicht aufhörte, um sich dem Müßiggang hinzugeben. Die vielleicht produktivste Zeit ihres Lebens sollte erst jetzt beginnen. An der Episode ist auch bereits zu erkennen, daß sie sich einsetzt und zwar vor allem für andere. Das Bundesverdienstkreuz bekam sie nicht nur für ihre Lebenserinnerungen, die sie im Alter von 90 Jahren zu schreiben anfing, sondern auch für ihr karitatives Wirken.
Ilse Pohl füllt außerdem seit Jahren aktiv die Position der Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Holding Frankfurter Verlagsgruppe aus. Damit unterstützt sie eine wirtschaftliche Struktur, die es mehr als 3.000 Autoren ermöglicht hat, ihre Werke zu veröffentlichen. Ilse Pohl versieht bis heute während der Frankfurter und während der Leipziger Buchmesse ihren ganztägigen Dienst an den Präsentationen der Frankfurter Verlagsgruppe. Sie gibt Interviews und eine ihrer Lesungen wurde erst vor kurzem durch TV-Direktschaltung auf eine amerikanische Buchmesse übertragen.
Aber nicht nur als Repräsentantin der Holding ist sie gefragte Gesprächspartnerin der Autoren der angeschlossenen Verlagshäuser. Sie ist es auch als erfahrene und mit Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin. Die von ihr repräsentierten Gesellschaften, die unter dem Leitsatz „Im Dienst an der Literatur“ arbeiten, sind stolz darauf, daß an ihrer Spitze kein Betriebswirt oder Verlagskaufmann, sondern eine Schriftstellerin steht. Die Frankfurter Verlagsgruppe ist damit weltweit die einzige Medienholding unter Führung einer etablierten Schriftstellerin und diejenige mit der ältesten aktiven Aufsichtsratsvorsitzenden überhaupt.
Die schriftstellerische Entwicklung der Ilse Pohl kann in drei, allerdings höchst ungleiche Abschnitte gegliedert werden. Die wenigen frühen Schriften, insbesondere Erzählungen für die Jugend, entstanden vor ihrem 90. Lebensjahr. Sie sind handwerklich sauber gearbeitete Unterhaltungsstücke, die darin ihren Wert finden. In meiner ersten Begegnung mit Ilse Pohl im Jahr 1997 schlug ich ihr dann vor, ihre noch ungeschriebene Autobiographie unter Vertrag zu nehmen, die dann in den folgenden Jahren in drei Bänden erschien und die jeweils 30 Lebensjahre erinnern. Ilse Pohl entwickelte hier ihre in den Frühschriften bereits erkennbare Kraft zu Analyse und genauer Beschreibung weiter und fand zu einem eigenen unprätentiösen Stil, den manche mit der scheinbaren Einfachheit, aber eben deshalb auch mit der erfrischenden Klarheit des Quellwassers verglichen haben. Die Autobiographie reflektiert darüber hinaus beinahe das ganze 20. Jahrhundert und ist daher auch ein Zeugnis dieser Zeit. Nach Erscheinen des ersten Bandes der Erinnerungen erhielt sie den Literaturpreis des Bundes Deutscher Schriftsteller, den sie sich heute mit Max Kruse, Cornelia Funke und mit anderen bedeutenden Autoren teilt.
Die Fähigkeit zu Beobachtung, Analyse und Subtraktion reifte schließlich, als sie sich im Alter von 97 Jahren der Lebensbeschreibung historischer Persönlichkeiten zuwandte. Dabei faszinierten Ilse Pohl nicht die glänzenden Taten allseits bekannter Großer, nicht das Glück und die Schönheit des reichen und leicht scheinenden Lebens. Auf sie, die selbst wohl immer eher still und, wenn sie Zuwendung erfuhr, verblüfft war, üben intellektueller Anspruch, Einsamkeit, Fragen von Schuld, gesellschaftliche Konsensbrüche und daran reifende Schicksale große Anziehung aus. Aber auch das geistige Licht, die Kraft der Zugewandtheit, der Liebe, der Freundschaft, die der Katabasis, dem Abstieg, dem Zerfall des Lebens, Einhalt gebietet, fesseln sie. Die von ihr verehrte Annette von Droste-Hülshoff, deren Genie sich zwischen gesellschaftlichem Scheitern und tief beglückender, intimer Geistigkeit auseinanderspannt, führte sie auf dieses neue, dritte Feld literarischer Arbeit, auf dem sie wohl ihr Bestes gab und bis heute gibt.
Eine mit Worten sparsame Schriftstellerin ist Ilse Pohl von Beginn an gewesen. Aber jetzt, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, scheint sie geradezu das legendäre Grundprinzip des Bauhauses auf ihre Kunst übertragen zu wollen: Sie prüft den Begriff, wägt einzelne Wörter ab, als ob ihr Beruf die Semantik wäre, streicht und nimmt alles weg, bis schließlich Substanz sichtbar wird.
Entsprechend lange dauert die Niederschrift eines biographischen Textes, der zutreffend als „Miniatur“, als kleines, aber wohl bedacht ausgeführtes Porträt gekennzeichnet ist. Auch wenn über Adele Schopenhauer , Clara Schumann und Cornelia Gothe, auch wenn über Wilhelm Busch, Hans Christian Andersen und Oscar Wilde umfassende biographische Werke existieren – es ist die, um einen Ausdruck Pohls zu verwenden, splitterzarte Analyse, die auf gedrängtem Raum, mit feinen, aber selbstsicheren Strichen psychologisch Wesentliches, also etwas vom wirklichen Wesen der Protagonisten zur Erscheinung bringt. Was manche Tausendseitenbiographie nur mit Mühe und unter dem Schutt unzähliger Fußnoten und unter dem Ballast eines immensen historisch-kritischen Apparats vollbringt, ist geradezu das Kennzeichen der Miniaturen: Sie geben dem unwiderbringlich Entschwundenen wieder eine Gestalt, und der Leser spürt, es ist seine wirkliche Gestalt.
Die Bücher von Ilse Pohl finden heute in höheren Auflagen Verbreitung. Sie werden auch ins Englische übersetzt, was für moderne deutsche Literatur ebenso ersehnt wie ungewöhnlich ist. Das Sekretariat des Aufsichtsrates erreichen deshalb Leserbriefe aus aller Welt.
Ilse Pohl hat, wenn man ihrer Autobiographie folgt, ihr ganzes Leben als Dienst aufgefaßt. Im letztvergangenen Jahrzehnt, das ich miterlebt habe, war dies der Dienst an den Alten, auf die sie zugeht und denen sie ein Licht anzündet, an geschundenen Kindern, deren manchen sie ein Glücksfall war, an Menschen, starken und schwachen, denen sie sich bis heute zuwendet, in der Öffentlichkeit, nach einer Lesung, im Vieraugengespräch mit einem Wohnsitzlosen oder auf der Buchmesse mit einer ratsuchenden Erstautorin, die 80 Jahre jünger ist als sie. Mir scheint, als lebte sie, die in hohem Alter ihr Bekenntnis zur katholischen Kirche abgelegt hat, nach dem Diktum Benedikts XVI., nach dem der Dialog zwischen den Menschen der Dialog Gottes mit den Menschen sein kann.
In einer Epoche, in der Menschen immer wieder das Hundert an Lebensjahren deutlich überschreiten und 106 und 110 Jahre alt werden (der derzeit lebende Älteste zählt 117 Lenze), dürfen wir hoffen, daß die Jubilarin noch eine ganze Reihe guter Jahre erleben und daß die Schärfe ihres Intellekts und ihr preußischer Arbeitssinn uns noch manche literarische Perle eintragen wird.